Mittwoch, 7. Dezember 2016
Kleine Geschichte
Kein Titel

Lauf die alte Zeit liegt hinter dir, wollte er gedacht haben, wollte er geschrieben haben, wollte er sich selbst ausgedacht haben, hatte er aber nicht und jetzt überlegte er ob er einfach so tun sollte als ob er sich das tatsächlich selbst ausgedacht hätte, als sei es ihm in den Kopf gefallen, als er, ja genau einem Bus hinter her rannte, nein das war keine gute Idee, die mit dem Bus, wenn er sich erklären sollte, für den Titel, schon das er darüber nach dachte, sich erklären zu müssen, deckte ihn als Dieb , Betrüger auf.
Wer seinen Titel erklärt, hat ihn nicht selbst geschrieben. Also einfach nehmen und falls die Frage käme, den eben gedachten Satz, den er selbst entworfen hatte und keine Ahnung hatte ob das überhaupt stimmte, aufsagen, oder klein bei geben und sich was Eigenes ausdenken.
Es sollte schließlich nur ein Titel werden und der Text darunter würde ein völlig anderer werden, das wenigstens wollte er sich beweisen, das konnte er.
Wäre es nicht sogar spannend, ja aufmüpfig einen Titel aus seinem gewohnten, schon von vielen, gelesenen Inhalt zu nehmen und ihn vor ein Becken voller neuer Wörter zu stellen? Gar tollkühn?
Wohl eher nicht, tollkühn ist es in der Nacht aufzuwachen, ein paar Sachen zusammen zu packen und zum Bahnhof zu fahren. Und dann auch noch in den nächst fahrenden Fernverkehr Zug einzuspringen. Und dann weg zu sein, für immer.
Ohne das man vorm Einschlafen auch nur im entferntesten daran gedacht hätte und mit dieser Aktion jeden, ja wirklich jeden, vor allem aber wohl dem Mann der nichts mitbekommen hatte, dermaßen zu verwundern, sie so zu erschüttern, dass man glauben konnte sie wäre in der Nacht, in dieser einen Nacht, gestorben.
Von alledem bekam sie nichts mit, da wartete sie schon in Budapest auf ein Taxi und wollte weiter ihre Tollkühnität auskosten. Da wachte ihr Mann auf und blieb vor lauter Wunder einfach liegen, bis er irgendwann doch aufstand.
Oder etwa, auf einer S-Bahn zu surfen, wie Pipi, Annika und Tom es auf einem Güterzug taten, der Film kam jedes Jahr zu Weihnachten und jedes Jahr wurde ihm diese Szene gezeigt.
Er hatte beides nicht getan, oder vorgehabt oder hätte es je mitgemacht, weder war er S-Bahn surfen und kam dabei ums Leben, weil er unvorsichtig gewesen wäre (davon abgesehen das man auf einer S-Bahn stehend nicht viel falsch machen konnte um zu sterben, eher wenig richtig um zu überleben), noch war er mitten in der Nacht aus einer wahnsinnigen Lust heraus aus dem Bett gesprungen und einfach weggefahren und hatte seinen Mann, also in seinem Fall seine Frau, schlafend verlassen.
Gut, das hatten eben andere getan, er saß also im Bett, saß, nicht lag, wohlgemerkt und versuchte an etwas anderes als an, lauf die alte Zeit liegt hinter dir, zu denken. Vor allem passte der Titel, höchstens ironischer weise zu dem, was er schreiben wollte, weil sie ja schon gelaufen war, da fiel ihm ein, das Briefe vielleicht gar keine Titel bräuchten und er einfach anfangen könnte zu schreiben.
Aber er wollte sich aufmerksam machen und nicht mit einem langweiligen, hallo, oder liebe (zumal er „liebe“ nie schreiben würde, er hatte sie nie mit „liebe“ angeschrieben) anfangen.
Er wollte Aufmerksamkeit, auch in dem Brief, er sollte ja gelesen werden, und beantwortet, nicht wie all die anderen die er verschick hatte und die ihn nie zurückerreichten, vielleicht sollte er mit einer Beleidigung anfangen? Mit einer richtig untergürtellinigen, die in die Empörung steigt und den Stolz treffen konnte, aber warum sollte er es schaffen ihren Stolz zu brechen, außerdem, so einer war er nicht, so einer hätte er vielleicht sein sollen.

Er entschied sich den Titel zu nehmen, sie las bestimmt keine deutschen Zeitungen und wenn, dann würde er sich lächerlich machen, aber das hatte sie schon vor 20 Jahren getan und das hatte er seit dem immer und immer wieder fleißig geübt, in jeder seiner kläglichen Briefe und Versuche, sie zu erreichen, er war sogar schon da gewesen, am Hauptbahnhof von Budapest um dann gleich wieder zu fahren.
Angesichts das er so viel an sie geschrieben hatte, mag es seltsam erscheinen das er ausgerechnet für diesen Brief einen Titel brauchte und das er so darüber nachdachte und das der so wichtig zu sein schien.
Nun: Er hing fest er hatte sich irgendwie eingefahren und wollte jetzt damit aufhören, er wollte einen Paukenschlag zum Ende, für sie, dass sie einmal zuckte und er wollte einen poetischen Anfang, was auch immer er davon verstand, der etwas in ihr auslösen sollte, er wollte das sie wusste das er sie verstanden hatte, nach 20 Jahren zwar, aber das wollte er und deshalb die Überschrift und deshalb die vielen Gedanken und all die Überlegungen.
Das hatte er damals bei Mimi auch getan, also, nein wollte er , aber sie war ja von der Bahn gefallen, und dann kam sie und dann hatte er es nach den Jahren vergessen sich bei seiner Mutter zu melden, die wohl jedem Tag am Fenster auf die Tochter wartete und den Vater wollte er ohnehin nicht sprechen.
Es war im Grunde das gleiche gewesen wie mit ihr: Mimi war aufgestanden und zur Haltestelle gegangen, einfach so, er glaubte nicht das sie sterben wollte, keiner hatte das geglaubt, jedenfalls war sie tollkühn gewesen und er hatte ihren Ausbruch verschlafen.
Sie schliefen damals nicht neben einander, wie später er neben seiner Frau schlief, aber im gleichen Zimmer und weil er jeden Tag zitternd um her zappelte und es kaum hatte ertragen können, was die Welt und die Menschen und das Leben ihm vorgaben, sich schon nach dem Aufwachen so sehr in den Schlaf wünschte und das schlafen zelebrierter und ihn nie jemand von seiner Sehnsucht abhalten konnte, kam es, dass er durch das liebste in seinem Leben für das Verschwinden von zwei Frauen verantwortlich war. Von einer zumindest, wie der Vater jeden Tag und jeden Abend in seinen Bart gemurmelt hatte, oder ihm mitten in der Nacht ins Ohr gebrüllt hatte. So war das Gefühl von Ihr nicht allzu neu für ihn gewesen,
Er saß immer noch da und dann kam ihm die Lösung, was er machen sollte, er faltete den Zettel zusammen, brach in einem Anflug von emotionaler Verwirrtheit seinen Bleistift in zwei, und sah kurz danach den Sinn. Er würde nie wieder nur einen Buchstaben schreiben, und er würde es nicht ankündigen. Zufrieden, seit langem und gestärkt für den Schlaf durch seine Befreiung drehte er sich um, schloss die Augen und wenn er nicht gestorben ist dann schläft er noch heute.

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